Quo
vadis, Fußball?
Beiträge
und Diskussion, III |
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Kapitel
3.
Vereinssport als sozialisatorische
Einrichtung |
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Für die Unternehmensberater
von Bundesligavereinen gilt der Faktor ”Vereinskultur” als extrem retardierender
Aspekt, der im Sinne eines erfolgreichen Marktproduktes möglichst
schnell aus dem deutschen Profifußball zu verschwinden habe. Dass
aber - noch - nicht jeder Bundesligist auf diesen Faktor verzichten will,
hatte am aktuellen Beispiel des eigenen Vereins WILLI LEMKE dargelegt.
Die gesellschaftsbildende historische Dimension der Vereinskultur und deren
sozialisatorische, integrative und identitätsstiftende Aspekte dokumentieren
aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln die Beiträge von SIEGFRIED
GEHRMANN und WALFRIED KÖNIG. |
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Am konkreten
Fall der ethnischen Gruppe der Masuren und des Revierclubs Schalke 04 beleuchtet
der Beitrag SIEGFRIED GEHRMANNS, in
welch erheblichem Maße der Fußballverein in den 1920er Jahren
in seiner Region zur gesellschaftlichen Integration einer diskriminierten
Minderheit beitragen konnte, die - obwohl mehrheitlich bereits in zweiter
Generation im Ruhrrevier ansässig - große Schwierigkeiten beim
Aufbau sozialer Kontakte zu Einheimischen hatte. Auch sei mit dem FC Schalke
ein Verein, der sich in den Jahren seines Aufstiegs selbst gegen Dünkel
und Feindseligkeiten der Etablierten zu behaupten hatte, im Sinne positiver
Identifikation zum Symbol der eigenen Lebenstüchtigkeit und über
seine Erfolge schließlich zum ”Stolz des kleinen Mannes” geraten. |
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Diskussion |
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Auf
allgemeinerer Ebene am Beispiel des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen behandelt
WALFRIED
KÖNIG die Aufgaben und Leistungen der deutschen Sportvereine und
-verbände in den vergangenen fünfzig Jahren. König weist
darauf hin, wie sehr die breit ausdifferenzierte Entwicklung der Sportbewegung
in Deutschland ein Resultat bürgerschaftlichen Engagements sei und
wie stark sich dies gerade im Blick auf die Aufgabenteilung zwischen Staat
und Sportorganisationen bemerkbar mache: Während beispielsweise in
Frankreich das gesamte sportliche Geschehen massiv und grundlegend durch
staatliche Eingriffe reglementiert werde, sei hierzulande die Autonomie
des Sports grundgesetzlich verbrieft. Spezielle Gesetze für den Sport
würden hier wenn überhaupt zu seiner Förderung oder zu seinem
Schutz erlassen, staatliche Eingriffe verstünden sich grundsätzlich
als subsidiärer Impuls für später durch Vereine und Verbände
selbständig weiterzuführende Entwicklungen. |
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Dass die sozialisatorische
und integrative Bedeutung des Sportvereins sich nicht allein auf das interne
Vereinsleben beschränkt, sondern sich - gerade im Fußballsport
- weit darüber hinausgehend ein Verein als Identifikationsfaktor mit
regionalem bis nationalem Einzugsbereich entwickeln kann, war in einigen
der obenstehend besprochenen Beiträge (Gehrmann, Lemke, Schulze-Marmeling)
bereits herausgehoben worden. Konkret auf die
Bedeutung des aktiven Stadionbesuchers bezieht sich der Beitrag BJÖRN
GIESENBAUERS, der - hier in zusammengefasster Form dargestellt - als
Diplomarbeit im Forschungsprojekt ”Sozialintegrative
Leistung von Fußballvereinen in Bremen” entstand. Am Beispiel
des SV Werder Bremen und seiner Fans untersucht Giesenbauer die gemeinschaftsfördern-de
und sozialintegrative Bedeutung des Fußballs aus der oben bezeichneten
Perspektive. Den Ort des Geschehens, das Bremer
Weserstadion, mit seinen ausdifferenzierten kulturellen und sozialisatorischen
Funktionen beschreibt in einem gesonderten Beitrag HARALD
KLINGEBIEL. |
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Durch
WALFRIED KÖNIG wie auch durch weitere Teilnehmer der Tagung wurde
auf die große Bedeutung jüngerer Tendenzen im Vereinssport,
insbesondere des Gesundheitssports angesprochen (in Verbindung mit der
Wiedereinführung des § 20 in das Sozialgesetzbuch betr. finanzieller
Unterstützung der Vereine durch Krankenkassen und Versicherungen):
Die Erfüllung des allgemein steigenden Bedürfnisses nach Fitness,
Spaß und - seit neuestem - Wellness wird immer öfter jenseits
des traditionellen Wettkampfsports gesucht. Mit dem Beispiel der TSG Bergedorf
zeichnete HANS-JÜRGEN SCHULKE
in der Diskussion das Bild eines modernen Großvereins, in dem der
Gesundheitssport einerseits zur Entwicklung neuer Assoziationsformen beitrage
sowie andererseits auch das hauptsächliche wirtschaftliche Standbein
des Vereins bilde. |
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Diskussion |
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Die ökonomische Bedeutung
des im Bremer Weser-Stadion beheimateten Sporttherapiezentrums (mit Werder
Bremen als 100%-Gesellschafter) bestätigten MANFRED MÜLLER und
WILLI LEMKE. In den vergangenen Jahren bieten vermehrt gesetzliche Krankenkassen
und Sportvereine Gesundheitssport unter fachlicher Anleitung an. Ein
Beitrag von GERD MARSTEDT und RAINER MÜLLER
präsentiert - im Blick auf Sport und Gesundheit bei Jugendlichen -
Ergebnisse einer gemeinsamen Untersuchung der Gmünder Ersatzkasse
und der Universität Bremen. |
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Ein
wichtiges, im wesentlichen noch unvollständig erforschtes Sonderkapitel
deutscher Sportgeschichte erweitert den Themenbereich ”Vereinssport als
sozialisatorische Einrichtung” um einen vollständig eigenwertigen
Aspekt, führt diesen Bereich aber zugleich auch ad absurdum: Sport
in der DDR. Die zentrale DDR-Sportplanung und -förderung stand von
vornherein im Zeichen des Leistungssports, und dieser wiederum im Zeichen
der Aussenpolitik - eine Logik, in der dem Breitensport nur der Rang einer
quantité négligeable zugedacht war, so dass die Frage: Prozess-
oder Produktorientierung sich hier von selbst beantwortet. Demokratisch
verfasste, unabhängige Vereine im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches
kannte der DDR-Sport nicht: Sportvereine nach DDR-Prägung - also ”Sportclubs”,
”Fußballclubs”, ”Armee-Sportklubs”, ”Betriebssportgemeinschaften”
und ”Sportgemeinschaften” - waren öffentlich-rechtliche ”Sportkörperschaften”
(Ulbricht) mit direkter Weisungsabhängigkeit; gruppen- und vereinsmäßige
Sportaktivitäten ausserhalb der bezeichneten Körperschaften waren
faktisch verboten. |
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In seinem Beitrag zum Spitzenfußball
in der DDR veranschaulicht GISELHER
SPITZER auf Grundlage des aktuellen Forschungsstandes einerseits die
zahlreichen nach wie vor offenen Fragen, Versäumnisse (im Sinne bisher
unerteilt gebliebener Forschungsaufträge) und Desiderata zum Thema.
Zum anderen, und dies ist der eigentliche Kern des Beitrags, führt
Spitzer drei Thesen zur von ihm so bezeichneten ”historischen Mission”
des DDR-Fußballs aus. |
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Als wichtigstem Teil des
öffentlich wirksamen Sports war danach - erstens - dem Fußball
durch die SED von Anbeginn an die Funktion eines zentralen ”Identifikationsobjekts”
für die klassenlose Gesellschaft auferlegt worden. Zweitens wurde
aufgrund der nie zu gewährleistenden Planbarkeit seines Erfolgs das
Fußballspiel der aussenpolitischen Funktion entbunden, erhielt aber
(im Gegensatz zu allen anderen Sportarten) einen nationalen Leistungsauftrag
und (im Gegensatz zu jeder anderen Sportart ohne internationalen Auftrag)
ein berufssportliches Fundament. Diese Aussage Spitzers: Profifußball
in der DDR von 1949 bis 1990, ist gleichbedeutend mit einer Neubewertung
der Geschichte des deutschen Berufsfußballs. Drittens schließlich
- und diese Aussage mag ebenfalls überraschen - konnten die international
kaum erfolgreichen DDR-Fußballer nicht nur ”spielend” Geld verdienen,
sondern zudem auch noch ein vielfaches dessen, was ihre Landsleute als
Weltmeister und Olympiasieger anderer Sportarten erhielten. |
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Der Blick auf die Ausführungen
WALFRIED KÖNIGS zur Aufgabenteilung zwischen Staat und Sportorganisationen
in der Bundesrepublik und dem gesellschaftsbildenden Beitrag des (auf bürgerlichem
Engagement fußenden) Vereinswesens für den Zustand der Demokratie
im allgemeinen provoziert im Zusammenhang geradezu die Frage nach dem Umkehrschluss:
Welchen ”Beitrag” leistete das faktische Verbot des ”bürgerlichen”
Vereinssports zum gesellschaftlichen Zerfall der DDR? |
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Kapitel
1: Leistungsorientierung und Erwartungshaltungen
Kapitel
2: Das Beispiel Werder Bremen
Kapitel
4: Attraktivität an den Grenzen |
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Inhaltsverzeichnis
Sammelband |
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Übersicht
Beiträge und Diskussion
Übersicht
Konferenz |
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