Quo vadis, Fußball?
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Quo vadis, Fußball
Kapitel 1
  Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik
 

Quo vadis, Fußball?
Beiträge und Diskussion, I
 

Kapitel 1.
Leistungsorientierung und Erwartungshaltungen

Die im TV-Zeitalter als allgemeines Phänomen zu verzeichnende Virtualisierung der Wahrnehmung wirkt sich besonders nachhaltig dort aus, wo - im Gegensatz zum im Fußball ”sozialisierten” Fachmann - der bloß passive Zuschauer mangels eigener Fußballpraxis immer weniger in der Lage ist, das via Fernsehen vermittelte Bild kritisch zu beurteilen. Im Verlauf des Bremer Symposions kamen diese Problematik und die damit verknüpften Konsequenzen an verschiedenen Beispielen zur Sprache. Zudem entstand für den vorliegenden Sammelband ein Gastbeitrag zum Thema Fußball und Fernsehen, Autor dieses Beitrags ist HANS-REINHARD SCHEU

Scheu richtet den Blick auf die seit der Einführung des dualen Systems in starkem Wandel befindlichen Logiken des Fernsehens, des Sports und eben insbesondere des Fernsehsports in Deutschland. Bei der Beurteilung der Konsequenzen für den Zuschauer gelangt er dabei zu einer Bestandaufnahme, die bedenklich stimmt. Ob der teuer erkauften Rechte am Sport sei die pflegliche - sprich: unkritische - Aufbereitung der Ereignisse gleichsam zum Selbstverständnis geraten. Dies und die gleichzeitige Neigung der Programmanbieter, das (eben durch die hohen Kosten für Verwertungsrechte) eng begrenzte eigene Sortiment als das wahre Spiegelbild der Sportszene darzustellen, führt lt. Scheu zu der Gefahr, dass der Zuschauer in seinen Erwartungen gesteuert, in seiner Nachfrage manipuliert und in seiner Wahrnehmung hypnotisiert werde. Leicht könne so die virtuelle Realität des Fernsehsports zum Maß für Tatsächlichkeit geraten.

Per Fernsehbild erzeugte Fußballbegeisterung aber kann zu schwerwiegenden Missverständnissen führen, zumal dann, wenn erzieherische Verantwortung im Spiel ist. Am konkreten Fall seines eigenen Wohnorts im Münsterländischen führte so DIETRICH SCHULZE-MARMELING aus, wie durch die erfolgreich als Kultur-Event inszenierte WM 1990 in Italien und den WM-Erfolg der deutschen Elf hierzulande zwar ein regelrechter Boom im Jugendfußball ausgelöst worden sei, wie jedoch andererseits die Art und Weise der medialen Präsentation des Fußballs sowohl bei Jugendlichen als auch bei deren Eltern vielfach Erwartungshaltungen hervorrufe, die jeder realen Grundlage entbehrten.

Nach Schulze-Marmeling vermittelt die Darstellung des Fußballs heute gleichsam automatisch die Einteilung seiner Akteure in ”winner und loser” - für Jugendliche, die den Fussball durch die Darstellung seiner Leistungsspitze im Fernsehen wahrnähmen, erscheine so nur das Beispiel absoluter Topmannschaften und ihrer Stars als nachahmenswert und identitätsstiftend. Eltern Fußball spielender Söhne wiederum machten auf derselben Grundlage in steigender Zahl den Lebensstandard eines Spitzenfussballers zum Maßstab ihrer Erwartungen und betrachteten den Fußball spielenden Einkommensmillionär als berufliches Leitbild für ihr Kind.

Auf der Folie der heute mit dem Fußballnachwuchs verknüpften Erwartungshaltungen tritt in besonderer Deutlichkeit zutage, dass der im Beitrag von Schulze-Marmeling nachgezeichnete Weg des Fußballs vom Spiel- und Lernprozess hin zu einem leistungs- und ergebnisorientierten Produkt an einem Punkt angelangt ist, wo historisch gewachsene pädagogische Effekte kaum noch zu greifen scheinen und sich das Spiel häufig bereits für Kleinstkinder - Stichwort ”Pampers-Liga” - als bitterer Ernst darstellt.

Auf das schon im frühen Stadium des Juniorenfußballs verloren gehende spielerische Element wies in der Diskussion HEINZ-HELMUT CLAUSSEN hin. Claussen zufolge zeichnen Eltern, Pädagogen wie Funktionäre gleichermaßen dafür verantwortlich, dass im Zentrum des kindlichen Strebens viel zu früh das Ziel des möglichst schnellen Erfolges stehe und man dem Kind damit die Produktorientierung gleichsam automatisch oktroyiere. Eigenständige Lernprozesse, Bewegungsvielfalt, kurz: alles das, was zur kindlichen und jugendlichen Entwicklung notwendigerweise dazugehöre, bleibe dabei mehr oder weniger vollständig auf der Strecke. Ohne diese Lernprozesse aus eigenem Erfahren aber drohe die Gefahr, dass jugendlichen Fußballspielern die Unterscheidung zwischen Fußballweisheiten im Fernsehen (Beckenbauer: ”Fußball ist ein Männersport, da müsst ihr rangehen”) und eigenem Spiel auf Dauer nicht mehr gelänge.

Diskussion

Die Tatsache, dass das Kind im Sinne eines erfolgreichen Produktes bereits in jungen Jahren auf mechanisierte Bewegungsabläufe eingeübt wird, erschöpft sich indes noch keineswegs darin, dass dabei der soziale und spielerische Prozess zu kurz kommt. Ein wesentlicher Aspekt, der in der Praxis mit frühzeitig auferlegtem Streben nach guten Resultaten im Fußball korrespondiert, ist das gezielte Einüben von Regelverstößen durch Jugendliche seitens ihrer Fußballtrainer.

GUNTER A. PILZ stellte in der Diskussion am Beispiel von Befragungsergebnissen aus dem alljährlich stattfindenden Jugend-Fair-Play-Cup in Niedersachsen dar, dass bereits bei C-Jugendlichen das Fairnessverständnis mehrheitlich dahingehend ausgeprägt sei, dass im Fußball nötigenfalls auch bewusst Foul gespielt werden müsse. Laut Pilz beweisen die Resultate seiner Untersuchung, dass der Sportverein in diesem Zusammenhang eine Sozialisationsinstanz nicht für Fairness, sondern für Unfairness sei: Jugendliche, die bereits sieben und mehr Jahre im Fußballverein aktiv seien, hätten weitgehend das Prinzip des Fouls als notwendiges Mittel zum sportlichen Erfolg verinnerlicht - in deutlichem Unterschied zu Jugendlichen mit drei oder weniger Jahren aktiver Vereinszugehörigkeit, denen ein weit weniger degeneriertes Fairnessverständnis zu unterstellen sei.

Diskussion

Die offenkundige Tatsache, dass im Juniorenfußball Unfairness und Aggression vielfach von aussen ins Spiel gebracht werden, führt zurück zum oben angesprochenen Erwartungsdruck, dem sich viele jugendliche Fußballspieler ausgesetzt sehen. Inhaltlich übereinstimmend waren die Berichte über Eltern, die ihre fünf-, sechs- oder siebenjährigen Kinder bei ausbleibendem Erfolg vom Spielfeldrand aus bedrohen, wobei es sich beinahe von selbst versteht, dass die bezeichneten Eltern sich für die kollektive Leistung der Mannschaft nur nachrangig interessieren. Zitat DIETRICH SCHULZE-MARMELING: ”Der eigene Sohn zuerst, dann dessen Team, der Gegner überhaupt nicht.”

Kapitel 2: Das Beispiel Werder Bremen
Kapitel 3: Vereinssport als sozialisatorische Einrichtung
Kapitel 4: Attraktivität an den Grenzen

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