Quo
vadis, Fußball?
Diskussion
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Universität
Bremen, Zentrum für Sozialpolitik
Quo
vadis, Fußball?
Diskussion,
III.1 (Auszug)
Verein
und soziale Gemeinschaft, Assoziation und Integration im historischen Vergleich
Franz
Nitsch: |
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Herr Gehrmann, Sie haben
von den Masuren gesprochen und vom Ruhrgebiet. Es gab nun auch Masuren
in Essen, es gab Masuren in Bochum, in Dortmund, in Herne und wo auch immer.
Von denen allen haben wir nichts gehört. Ginge auch nicht. Für
mich ist die erste, methodische Frage: Ist das Beispiel Schalke repräsentativ
für Masuren? Und für das Ruhrgebiet? Ich meine nein. Die Masuren
bzw. die Leute, die gekommen sind, sind ja in aller Regel in Siedlungen
untergebracht worden. In sogenannten Bergarbeitersiedlungen. In aller Regel
haben sich aus dieser Wohnsituation Arbeitervereine gebildet mit einem
ganz klaren Bewusstsein. Und Sie wissen, dass es im Ruhrgebiet ausgesprochene
Arbeitersportvereine gegeben hat. Und die, die in bürgerlichen Vereinen
gespielt haben, sind von den Arbeitersportlern immer als Klassenverräter
bezeichnet worden. Also die Frage wäre: Wieviele Masuren spielen in
Arbeitersportvereinen? |
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Und zweitens, dass das als
„Polackenverein“ und damit als Identifikationsinstanz betrachtet wurde,
kann ein reiner Zufall sein. Es kann ein reiner Zufall sein, dass viele
andere, wirklich polnische Vereine, die also als solche die polnische Kultur
tradiert haben im Ruhrgebiet, dass die diese Funktion und diese Wirkung
nicht hatten. Also, ich frage: Inwieweit ist das Beispiel Schalke überhaupt
repräsentativ für einen Prozess wie Sie ihn beschrieben haben? |
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Siegfried Gehrmann: |
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Die Masuren, die waren nicht
im Ruhrgebiet schlechthin und überall, sondern da gab es bestimmte
Schwerpunkte. Der Schwerpunkt war mittleres Ruhrgebiet und hier insbesondere
Gelsenkirchen/Bochum, aber vor allen Dingen Gelsenkirchen, Gelsenkirchen-Buer,
sowie der nördliche und nord-östliche Teil Essens heute, damals
noch Landkreis Essen, also Altenessen Katernberg und so weiter. Zweiter
Punkt: Sie sagten etwas über Arbeiterkolonien. Ja natürlich,
sicher, ein Teil der Arbeiterschaft wohnte in einer Arbeiterkolonie, aber
längst nicht alle, sondern - wenn man alles zusammennimmt - eher eine
Minderheit. Auch ein Teil der Mitglieder von Schalke 04 wohnte im übrigen
in solchen Arbeiterkolonien - beispielsweise Kolonie Sophienau, es ließen
sich da auch noch viele andere nennen. Dann, wenn ich Sie richtig verstanden
habe meinten Sie also, Schalke war kein richtiger Arbeiterverein, oder
nicht repräsentativ... |
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Franz Nitsch: |
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Um dies nochmals zu verdeutlichen:
Es gibt ja zur gleichen Zeit in den 20er Jahren reine Arbeitersportvereine,
die also nicht Mitglieder des Westdeutschen Spielverbandes waren. |
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Siegfried Gehrmann: |
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Sie meinten die Arbeitersportbewegung.
Das ist einfach zu erklären. Schalke war nicht vom Leistungsniveau
repräsentativ für irgendetwas anderes, da war man natürlich
eine singuläre Erscheinung. Aber hinsichtlich der sozialen Herkunft
der Mitgliederschaft war Schalke 04 durchaus repräsentativ für
sehr viele kleinere und mittlere Vereine im Ruhrgebiet, die eine ähnliche
klassenspezifische Provenienz hatten. Es gab natürlich auch Fußballclubs,
die der kommunistischen bzw. der sozialdemokratischen Arbeitersportbewegung
- gegen Ende der Weimarer Republik hatte sich das ja gespalten - angehörten,
das war aber die Minderheit. Es gab also mehr „bürgerliche Arbeiterfußballclubs“
als es sozialisitsche Arbeiterfußballclubs gab. |
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Walfried König: |
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Ich würde gerne zu
dem vorher gesagten noch eine Kleinigkeit hinzufügen. Auch deshalb,
weil ich vor 20 Jahren, als Schalke 04 75 Jahre alt wurde, gezwungen war,
für meinen damaligen Minister die Rede zu schreiben zum Jubiläum
und ich mich damals ein bisschen befasst habe mit der Geschichte des Vereins
sowie auch anderer Vereine im Ruhrgebiet. Wenn ich mich richtig erinnere,
dann gab es also neben diesem polnisch-masurischen Aspekt natürlich
ganz stark eben auch diesen typischen Vorortaspekt, und das habe ich in
der Frage von Franz Nitsch eben auch gesehen. Und gerade weil unser vorliegendes
Thema „Verein und soziale Gemeinschaft“ heißt, wollte ich darauf
nochmals gesondert hinweisen. |
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Anekdotisch noch das folgende:
Der polnische Verband soll damals einige Schalker Spieler für die
eigene Nationalmannschaft angefordert haben - also der frühe Vorläufer
dessen, was wir heute mit Mustafa Dogan haben und mit anderen jungen Türken. |
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Siegfried Gehrmann: |
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Angeblich oder wirklich? |
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Walfried König: |
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Ja das weiß ich ja
nicht. Also nach dem, was ich von Ihnen heute gehört habe, glaube
ich diese Geschichte nicht mehr, weil das ja dann angeblich keine Polen
waren, sondern eben Masuren, also im Prinzip Preußen waren. Aber
ich wollte noch auf folgenden Punkt hinweisen. Es gab in Gelsenkirchen
nicht nur Schalke, es gab auch noch Horst-Emscher, es gab gleich nebenan
den SV Sodingen, es gab Dortmund, nicht im Westfalenstadion, so wie heute,
sondern draußen am Borsigplatz, es gab Duisburg mit Meiderich und
Hamborn. In Essen wie Sie schon gesagt haben - den feinen Club Schwarz-Weiß
und den dreckigen Club Rot-Weiß. Also es waren alles im Grunde genommen
Stadtteil-Vereine und daraus leitete sich natürlich ihre Identität
vielleicht genauso stark ab, vielleicht sogar stärker, als vielleicht
aus irgendwelchen ethnischen Aspekten. Mir ist erinnerlich, dass in dem
was ich damals gehört und gelesen habe, sehr stark betont wurde, dass
rund um diesen Verein herum auch viele andere Aktivitäten noch immer
eine Rolle gespielt hätten, dass Jeder Jeden gekannt habe weil man
ja auch in den Hinterhöfen miteinander gespielt habe und so weiter,
was ja vollkommen verlorengegangen ist, seitdem diese Vereine praktisch
in die Stadtmitte gewandert sind, wo sie jetzt nicht mehr Meiderich heißen,
sondern MSV Duisburg. Also diesen Aspekt, meine ich, den sollte man nochmals
ins Auge fassen. |
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Siegfried Gehrmann: |
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Natürlich haben Sie
Recht, dass der Stadtteil, das Stadtviertel oder sogar ganz bestimmte Wohnquartiere
die Keimzelle darstellten. Aber wenn wir jetzt einmal bei Schalke 04 bleiben
- man kann also schon Mitte der 20er Jahre feststellen, dass das Rekrutierungsfeld
von Schalke 04 über die Grenzen von Schalke sehr deutlich hinausgeht.
Das ging weit nach Gelsenkirchen hinein und dann auch über die Grenzen
von Gelsenkirchen hinaus, also in den Essener Bereich, in den Bochumer
Bereich. Das kann man also da sehr schön feststellen, ein Indiz dafür
kan man vielleicht auch darin sehen, dass sich der Verein Ende der 20er
Jahre schon nannte: „FC Gelsenkirchen Schalke 04“. Also der Name der Großstadt
Gelsenkirchen wurde jetzt ganz bewußt in den Vereinsnamen aufgenommen. |
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Was dann das ethnische Zugehörigkeitsgefühl
der Schalker anbelangt, insbesondere der Spieler der ersten Mannschaft.
Es gibt eine Anekdote über Ernst Kuzorra, vielleicht ist sie sogar
wahr, sie klingt in jedem Fall ziemlich wahrscheinlich. Auf einer Reise
der Schalker nach Ostpreußen - einer sogenannten „Butterfahrt“ in
den dreißiger Jahren - trat irgendjemand mit der Frage an Ernst Kuzorra
heran, ob man nicht einmal dieses oder jenes Dorf besuchen sollte, dort
müßten noch Verwandte von ihm wohnen. Antwort Kuzorra: „Ach,
geh mich doch weg mit die Polacken“. |
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Dietrich Schulze-Marmeling: |
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Es ist sicher richtig, dass
diese Vereine, ob es jetzt Dortmund oder Schlake anbelangt, immer so etwas
wie ein regionales Lebensgefühl verkörpern. Aber beide sind doch
über die Jahre zu Autofahrervereinen geworden. Bei Schalke bin ich
völlig überzeugt, dass, wenn sie jetzt ein neues Stadion in Dülmen
- also im Münsterland - bauen würden, das auf den Zuschauerzuspruch
überhaupt keine Auswirkungen hätte, weil nämlich aus dem
Münsterland seit geraumer Zeit sehr sehr viele Leute nach Gelsenkirchen
zu den Spielen fahren. |
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Ich will es etwas provokativ
sagen, dass Schalke 04 in den dreißiger Jahren so ein bisschen Vorläufer
von dem war, was später Bayern München war, in dem Sinne, dass
Schalke nämlich nicht mehr Schalke war, sondern Deutschland wurde,
durch diese ganzen Deutschen Meisterschaften. Wenn ich meine Eltern, die
nun sportlich nicht sonderlich interessiert sind und die zwar aus dem Ruhrgebiet,
aber nicht aus dem Arbeitermilieu kommen, frage, welche Sportler zu ihrer
Zeit eine Rolle gespielt hätten, dann wird aufgezählt: Schmeling,
Caracciola, Rosenmeyer, Kuzorra, Szepan, diese fünf Leute, dazu noch
die Skifahrerin Christel Kranz - das war der deutsche Sport. Also Schalke
hatte schon eine Ausnahmestellung inne, schon vor der ersten Deutschen
Meisterschaft, wonach die Popularität erst richtig weit über
die Stadt und Region hinausging. |
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Wenn man heute die Vereine
aufzählt, die so etwas wie nationale Vermarktungswerte haben, die
also national vermarktbar sind, dann ist das sicherlich - wie schon erwähnt
- Bayern München durch die Erfolge der siebziger Jahre, dann ist das
Schalke 04 aufgrund seiner besonderen Geschichte, dann ist das Dortmund,
aber auch erst in den neunziger Jahren, nämlich dadurch, dass sie
ein anderes Feld [kontra zu den Bayern] besetzten, eben das des „Arbeitervereins“,
des Traditionsvereins, denn obwohl die Dortmunder jünger sind als
Bayern München, hängt ihnen doch trotzdem das Image des Traditionsvereins
irgendwie mehr an als dem FC Bayern München. Und zukünftig wird
dann wahrscheinlich noch Hertha BSC Berlin als Hauptstadtverein dazukommen,
der ja auch systematisch als solcher von Medienkonzernen gepusht wird,
das ist eine Position, die Schalke sich eigentlich in den dreißiger
Jahren erarbeitet hat, und von der sie in gewissem Sinne auch heute noch
profitieren. |
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Siegfried Gehrmann: |
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Ich würde Ihnen da
durchaus Recht geben. Vielleicht ist es interessant, dazu folgendes zu
sagen: Sie sagten, Schalke sei Deutschland gewesen. In gewisser Hinsicht
würde ich Ihrer These hier auch folgen. Für den Nationalsozialismus
war ein Verein wie Schalke 04 ein außerordentlich wirksames Medium
zur Verifizierung der eigenen ideologischen Position. Die Nationalsozialisten
haben die Schalker propagandisitsch vermittelt als Personifizierung echten
deutschen Arbeitertums. Und für den Nationalsozialismus war ja gerade
die Arbeiterschaft die Bezugsgruppe - das wird gerne bei aller Faschismustheorie
unterschlagen. Auch dieser Punkt spielte da durchaus eine große Rolle,
gerade im Falle von Schalke 04. |
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Zusammenfassung
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