Der Zeitraum, der zwischen
Weihnachten 1932 und der Etablierung der Reichsvertretung der deutschen
Juden im September 1933 lag, markierte den Beginn eines Ablaufs, dem
das Ende bereits inhärent war. Die Dimension der Machtübernahme
durch die Nationalsozialisten wurde freilich von vielen Juden wie Nichtjuden
vorerst anders eingeschätzt als von Leo Baeck. Sein Wort vom Ende
des Deutschen Judentums ”schockierte” seine Zuhörer: ”Die Juden hatten
es gehört, aber die meisten hatten es nicht aufgenommen”. (BALL-KADURI)
Nachdem am 30. Januar 1933
die nationalsozialistische Machtübernahme erfolgt war, lag die erste
Hauptaufgabe des neuen Regimes zunächst in der Zerschlagung seiner
politischen Opposition. Dies war gleichbedeutend damit, dass während
der ersten Wochen nationalsozialistischer Herrschaft das Hauptaugenmerk
der NS-Führer und der von ihnen bis zur Raserei aufgestachelten SA-Männer
- noch - nicht in vorderster Linie auf den Juden lag. Juden wurden im Februar
des Jahres 1933 nicht als Juden verfolgt, sondern sie wurden in ihrer Eigenschaft
als frühere Sozialisten oder als Mitglieder des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold
oder des Republikanischen Beamtenbundes oder als Angehörige der Friedensliga
oder als Kommunisten verhaftet oder kamen in Konzentrationslager.
Die
Reichstagswahl vom 5. März 1933 - der Reichstag war fünf Tage
zuvor in Flammen aufgegangen - brachte nicht das von vielen Juden und Nichtjuden
herbeigewünschte vorzeitige "Ende des nationalsozialistischen Spuks"
(KLEMPERER), sondern sie führte zunächst zum "Ermächtigungsgesetz",
und auf dessen Basis dann in mehreren, schnellen Schritten - deren erster
"planmäßiger" die großangelegte Boykottkampagne gegen
jüdische Geschäfte am 1. April war, unmittelbar gefolgt vom Erlass
des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 7. April -
zunächst in offenen Terror, bald darauf in Verfolgung, Deportation
und Vernichtung.
Als
der Historiker FRED GRUBEL - 1986 - das Sinnbild von der einen jüdischen
Gemeinde entwarf, die sich 1933 ”im selben Boot, in immer stürmischerer,
tobender See” zusammenfand, sprach er auf die im September 1933 vollzogene
Gründung der Reichsvertretung der Deutschen Juden an, die, so KURT
JACOB BALL-KADURI, ”in Wirklichkeit eine Gründung der großen
jüdischen politischen Vereinigungen gewesen war, die sich damit über
die Gemeinde Berlin und den unfähigen Preußischen Landesverband
jüdischer Gemeinden hinweggesetzt hatten”.
Bis zur Konstituierung der
Reichsvertretung waren die vielen und verschiedenartigen im Reich verstreuten
jüdischen Verbände und Vereinigungen - von der ungeheuren nationalsozialistischen
Übermacht ”auf Leben und Tod” angegriffen - ohne jede einheitliche
Leitung und Koordination geblieben. Dies war gleichbedeutend damit, dass
die Wucht der immer stärker zunehmenden Gewalt von außen nicht,
so gut es ging, von einer in sich stabilen Organisation abgefedert werden
konnte, sondern dass sie einzelne Individuen bzw. einzelne Gemeinden unabgeschwächt
traf. Im Sinne einer übergreifenden Zusammenarbeit waren nun nicht
nur - wie schon angedeutet - die starken jüdischen Gemeinden handlungsunfähig.
Vielmehr standen auch einer Übereinkunft der politischen jüdischen
Vereinigungen zahllose Hindernisse im Weg. Die dennoch erfolgreich verlaufene
Gründung der Reichsvertretung ging letztlich auf die Initiative eines
"Dreimännerkollegiums" aus Essen zurück, das die Führung
der einzurichtenden Organisation dem ersten Rabbiner der Berliner Gemeinde,
Leo Baeck, antrug.
Während die Weitsicht,
die Diplomatie und das Fingerspitzengefühl einiger ihrer Exponenten
ein Arrangement der heterogenen jüdischen Positionen ermöglichte,
kam ein solches Arrangement bei der Koexistenz der verschiedenen politischen
Organisationen in anfänglich nur recht beschränktem Maße
zustande. Nochmals sei an dieser Stelle das Gleichnis Fred Grubels vom
jüdischen Boot in tobender See aufgegriffen: Das eine, gemeinsame
jüdische Boot hätte es ohne die Voraussetzung der stürmischen
See niemals gegeben. Aber es wäre, so, wie es beschaffen war, auch
ohne eine stürmische See ein schlingerndes Boot gewesen. Einen beträchtlichen
Anteil an diesem Zustand kann man dem Missverhältnis zuschreiben,
das zwischen der Zionistischen Vereinigung für Deutschland und dem
Reichsbund jüdischer Frontsoldaten vorherrschte.
Da die gesamte Entwicklung
des jüdischen Sports in Deutschland ab 1933 - abgesehen von der ohnehin
prekären Folie nationalsozialistischer Willkür - in unmittelbarer
Abhängigkeit zu diesen beiden politischen Organisationen stand, sei
deren Verhältnis zueinander im folgenden kurz umrissen. |
a) die strikte eigene Abgrenzung
von denjenigen, die sich für eine Auswanderung aussprachen und
b) die Anpassung des Bundes
an die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland.
Der Frontbund setzte, nachdem
er seine bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme aufrechterhaltene
politische Neutralität aufgegeben hatte, im Mai 1933 das "Führerprinzip"
durch. Ab April 1933 richtete die Bundesleitung des RjF immer wieder Eingaben
an Hitler, Hindenburg und weitere Regierungsstellen, in denen sie eine
Beteiligung am 'nationalen Wiederaufbau' Deutschlands ”sei es zum friedlichen
Aufbau des Reiches, sei es zu seiner Verteidigung nach außen” reklamierte
und die bevorzugte Behandlung von RjF-Angehörigen forderte. Dass den
Frontsoldaten im Zuge der so bezeichneten "Wiederherstellung des Berufsbeamtentums"
qua Gesetz Privilegien gewährt wurden, muss auf die Intervention Hindenburgs
bei Hitler zurückgeführt werden.
So deutlich, wie den übrigen
deutschen Juden durch das ausschließliche Streben des Frontbundes
nach bevorzugter Behandlung seiner Mitglieder unausgesprochen ”die Solidarität
... aufgekündigt” wurde, so deutlich richtete sich der RjF expressis
verbis gegen die Zionistische Vereinigung, mit der er in den Weimarer Jahren
durchaus freundschaftliche Beziehungen unterhalten hatte:
”Gegenüber dem Zionismus
ist die Abgrenzung sehr leicht und scharf anzugeben. Nachdem, seit dem
nationalen und nationalsozialistischen Umschwung, der RjF nicht mehr bei
seiner jüdisch-politischen Neutralität bleiben konnte, war nur
eine eindeutige Stellungnahme für unsere deutsche Heimat als unsere
alleinige Heimat, für die wir gekämpft haben, und für die
und um die wir immer wieder kämpfen und kämpfen werden, gegeben
... jüdisch-nationale Bestrebungen dürfen nicht dazu gehören,
und soweit sie schon in Deutschland Eingang gefunden haben, müssen
sie verschwinden.”
Die Lösung der ”Judenfrage”
lag für den RjF, da dessen Mitglieder in Deutschland bleiben wollten,
entsprechend in Deutschland. Zu erreichen war sie - laut LEO LÖWENSTEIN
- durch die Schaffung eines eigenständigen jüdischen Bereiches
in Deutschland, in dem die Juden ”durchaus und geschlossen unter sich bleiben”
und die ”Ziele des nationalsozialistischen Staates unbedingt anerkennen”.
b) Unveränderte
Ziele in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland
Die Lösung der ”Judenfrage”
war das erstrebte Ziel auch der Zionistischen Vereinigung. Die zionistische
Konzeption hatte, gemessen an der des Frontbundes, eine andere Richtung
- die gleiche nämlich, wie bereits vor 1933 auch: Förderung
der zionistischen Idee unter den deutschen Juden und deren Vorbereitung
auf ein neues Leben in Palästina.
Nachdem am 13. Juni 1933
die - zionistische - Jüdische Rundschau der Haltung Ausdruck verlieh,
dass man von judenfreundlichen wie judenfeindlichen Regierungen gleichermaßen
Unterstützung erwarte, richtete sich die Z.V.f.D. mit einer förmlichen
Erklärung an Hitler, in der sie die ”nationale Wiedergeburt Deutschlands
durch den Nationalsozialismus und dessen Grundgedanken zu Abstammung, Religion,
Schicksalsgemeinschaft und Artbewusstsein” begrüßte. Diese Grundlagen
mache sich auch der Zionismus zu eigen, als ”Ausdruck der nationalen Wiedergeburt
auch des jüdischen Volkes”. Für die Zeit der Auswanderung, so
der Vorschlag der Z.V.f.D., solle der Staat den deutschen Juden den Status
einer geschützten Minderheit gewähren.
Schon im September 1933,
dies steht in Einklang mit der Erkenntnis Leo Baecks vom Ende des Judentums
in Deutschland, legte MARTIN ROSENBLÜTH in einer Denkschrift das Wort
von der "nationalen Wiedergeburt Deutschlands" anders - realistischer -
aus und stellte fest, dass ”der deutsche Zionismus im Grunde gar keine
andere Wahl habe als zu versuchen, Bedingungen zu erreichen, die eine ordnungsgemäße
Emigration der Juden gewährleisten ”.
Die Bedeutung des Reichsbundes
jüdischer Frontsoldaten war, nach einem Artikel der Jüdischen
Rundschau, im Sinken begriffen, da ”der dünne Aufguss der alten assimilatorischen
Ideologie, die nur mit einigen modischen Schlagworten aufgeputzt” sei,
für die ”Bewältigung der Lebensprobleme des deutschen Judentums
nicht ausreichen” könne.
c) Die
Stellung von RjF und ZVfD aus der Verfolgerperspektive
Die Politik des Reichsbundes
führte in der Anfangszeit des nationalsozialistischen Regimes zunächst
auf einigen Feldern zu der angestrebten Bevorzugung seiner Mitglieder und
des Teils der deutschen Juden, dessen Interessen er vertrat, gegenüber
dem verbleibenden anderen Teil. Dass es zu gesetzlichen Ausnahmeregelungen
zugunsten von Frontkämpfern kam, kann keinesfalls als Anerkennung
Hitlers für die Anpassungsbereitschaft des RjF gewertet werden
- sie gehen vielmehr auf den alten Soldaten und Feldmarschall Hindenburg
zurück. Zu breiter, wenngleich informeller Unterstützung durch
das Regime gelangte indes die zionistische Auswanderungspolitik, die zwischen
1933 und 1940 von verschiedenen Staats- und Parteistellen teilweise massiv
gefördert wurde. Aber auch hier gilt, dass die geleistete Unterstützung
nicht als Anerkennung zionistischer Politik seitens der Nationalsozialisten
verstanden werden darf, sondern vielmehr ein Mittel zum Zweck bei der Verfolgung
des übergeordneten Ziels der Rassenpolitik Hitlers war. Sein Wort
von 1920 - zum deutschen Juden - galt 1933 unverändert: ”Menschenrechte
soll er sich da suchen, wo er hingehört, in ... Palästina”.
Dass die Unterschiede in
der innerjüdischen Politik das NS-Regime letztlich ohnehin nicht kümmerten
und ”jede jüdische Organisation, gleich welcher Art, ein 100%iger
Gegner des Nationalsozialismus war, zeigte sich - stellvertretend für
alle, die dies nicht bereits vorher wussten - auch dem Reichsbund jüdischer
Frontsoldaten spätestens im September 1935.
Der Erlass der "Nürnberger Gesetze" vollzog - auch faktisch - das
Ende der jüdischen Assimilation und Emanzipation der vergangenen anderthalb
Jahrhunderte. |