Quo vadis, Fußball?
Christian Hinzpeter 
 
 
 
 
 
Quo vadis, Fußball
 
www.s-port.de/quovadis/0761.html  
Quo vadis, Fußball?
Verlag Die Werkstatt 
ISBN 3-89533-298-4
Christian Hinzpeter
Die positive Seite der Medaille: Der Fall „Bosman“ hat nicht bloß Schattenseiten für den Fußball
Ich erinnere mich genau an die turnusgemäße DFB-Tagung der Bundesliga-Manager im Spätsommer des Jahres 1995. Im etwas tristen Sitzungsraum des in Flughafennähe befindlichen Tagungshotels hatte der bundesdeutsche geballte Fußballsachverstand (36 Manager der Ligen, angeführt von den Sitzungsleitern des DFB) unüblich pünktlich Platz genommen. Auf der Tagesordnung stand die „chose Bosman“. Für mich als Vertreter eines Zweitligisten war es nichts ungewöhnliches, dass die Macher der meinungs- und auch meist tabellenführenden Erstligisten (Hoeneß, Calmund, Lemke...) schon etwas mehr zu wissen schienen über die Hintergründe eines umstrittenen Transfers in Belgien. Schlicht hatte sich mir die Bedeutung des strittigen Transfers eines belgischen Fußballprofis namens Bosman vom RC Lüttich zum französischen Zweitligisten US Dünkirchen im Jahre 1990 noch nicht ausreichend erschlossen.
Nun aber hingen auch die bedeutenden Manager an den Lippen von Wilfried Straub, der den Sachverhalt erläuterte, sowie später an denen der Herren Eilers und Holzhäuser. Ersterer hatte als Justitiar des DFB die nicht ganz einfache Aufgabe, eine erste rechtliche Einschätzung zu geben und das späte verbandsseitige Reagieren von UEFA und DFB zu erklären, letzterer zeigte mit seinem Beitrag (für mich) erstmalig das in all seinen nicht nur betriebswirtschaftlichen Auswirkungen für den deutschen Fußball auszumachende Horrorszenario auf. Ich erinnere, dass - obgleich alle Referenten alles taten, um einer Panik durch betont ruhige Vortragsweise vorzubeugen - alle Vereinsvertreter ohne Ansehen der Klassenzugehörigkeit, des Tabellen- oder Kontostandes Ihrer jeweiligen Clubs gleichermaßen spürten, dass da etwas ganz Großes auf den deutschen Fußball zurollte.
Wir hatten uns nicht getäuscht.
Um es ganz klar zu sagen - ich war ein überzeugter Anhänger des damals bestehenden Transfersystems. Die Kritiker, die mir im Zusammenhang mit diesem System immer zu leichtfertig mit dem Wort „Sklavenhandel“ umgingen, kamen doch zumeist aus den Reihen derer, die zwar sehr vieles und sehr laut zu vermelden hatten, aber nie selbst Verantwortung für einen Verein zu tragen hatten.
Für - damals - „meinen“ FC St. Pauli hatte das System eindeutig Vorteile: Der Geldwert des fußballerischen Vermögens eines beim Verein angestellten Profis war jederzeit schematisch berechenbar - der Schatzmeister konnte also Vorgaben schaffen, die mehr oder weniger einhaltbar waren. Durch das gewachsene „Bonus/Malus-Solidar-System“, welches zwar von den potenten Bundesligisten immer wieder - fast rituell - angegriffen wurde, bekam etwa ein Zweitligaklub einen finanziellen Abschlag beim Ankauf eines Spielers von einem der reicheren Vereine und umgekehrt einen Zuschlag, wenn ein wirtschaftlich erfolgreicherer Verein einen seiner Spieler zu kaufen trachtete. Im Grunde konnte mit dieser Regelung allseits gut und vor allem planbar gewirtschaftet werden. 
Der unschätzbare Vorteil dieses Systems für den Fußball insgesamt war aber die Tatsache, dass eingenommene wie ausgegebene Transferbeträge immer im Fußballwirtschaftskreislauf aller Ligisten - insbesondere auch der Amateurvereine - verblieb. In jener Zeit für einen Transfer von Verein zu Verein überwiesenes Geld blieb dem Fußball immer fast vollständig erhalten und wurde zumeist auch wieder für fußballerische Zwecke verwandt. Die Ablösesummen, die ja nach wie vor von den Vereinen zur Verpflichtung von Spielern gezahlt werden müssen, fließen heute vornehmlich in die Taschen der Spieler. Damit sind aus dem Fußball erwirtschaftete Gelder dem Kreislauf des Fußballs auf immer entzogen. Schon auf der geschilderten Tagung von 1995 in Frankfurt/M. kam es zur Formulierung von Endzeitvisionärem. Seither lese ich in regelmäßigen Abständen, dass es nicht nur, aber insbesondere für den deutschen Fußball (je nach eigener innerer Uhr) zwischen fünf vor und bereits einer Minute nach zwölf sei. Tatsächlich geistern schwindelerregende Zahlen - mehr oder weniger glaubwürdig aufgezeichnet - durch die Gazetten: „Bundesliga mit 700 Mio. DM verschuldet“; „Serie A investiert 1,3 Milliarden DM für neue Spieler“; „Real Madrid bei 300 Mio. DM Schulden angelangt“...
Tatsache aber ist (und bleibt vorerst), dass ein Spielereinkauf mit einer derartigen Summe von Imponderabilien behaftet ist, dass zwar die Erfolgswahrscheinlichkeit um einen gewissen Prozentsatz in die gewünschte Richtung beeinflussbar ist, Erfolg im Fußball aber noch immer nicht zur Gänze käuflich ist.
So wird der Fußball „nach Bosman“ mit der Tatsache leben müssen, dass der Vereinserfolg weitgehend von der Geschicklichkeit und Erfahrung der Talentsichter abhängen wird. Auch die Qualität der vereinseigenen Jugendarbeit bekommt wieder einiges Gewicht. Umsichtige und nicht nur dem momentanen Erfolg verpflichtete Vereinsführungen werden ihren Clubs keine nicht refinanzierbaren Kraftakte zumuten, sondern nach der alten Kaufmannsregel handeln, nicht mehr auszugeben als bereits eingenommen ist. Die Einnahmeseite der Vereine durch Verkauf stark nachgefragter Rechte, durch Börsengang und komfortablere Stadien, Merchandising und durch nach wie vor sprunghaft steigende TV-Erlöse hat sich in einer Weise verbessert, dass ein erfolgreiches Wirtschaften eigentlich vergleichsweise leicht möglich sein müsste.
Für die Profis hat sich die Rechts- und Ertragslage durch den fünfjährigen Kampf des „Märtyrers von Lüttich“ (Der Spiegel) natürlich sehr nachhaltig verbessert. Die aus meiner Sicht nutzlose Diskussion über nicht durchzusetzende salary cabs wird hieran ebenso wenig ändern, wie die Forderung ausgerechnet des Managers von Manchester United, Sir Alex Ferguson, nach Einführung eines runden Tisches, an dem die internationalen Spitzenklubs das Thema Begrenzung der Spielergehälter diskutieren sollen. 
Die mindestens ebenso weitreichende Änderung, die uns Jean-Marc Bosman bescherte, ist die Abschaffung der Kontingentierung von Ausländern pro Mannschaft. Der Vorteil liegt für mich vor allem darin, dass zumindest der offen zur Schau gestellte Ausländer- und Fremdenhass in den Stadien deutlich nachgelassen hat; Urwaldgebrüll oder noch zu Beginn dieses Jahrzehnts in fast allen Stadien beliebte Refrains wie „Husch, husch, husch - Neger in den Busch“ grölen sich selbst besoffen weit schlechter, wenn auch die eigene Mannschaft farbige (und) erfolgreiche Fußballer in ihren Reihen hat.
Im Zuge verschwindender Grenzen in Europa und wachsender Globalisierung ist es nur konsequent, wenn in dieser Saison von ca. 520 Bundesligaprofis nur noch rund 300 aus Deutschland und etwa 215 von ihnen aus 54 Ländern kommen. Eine aus dieser Tatsache resultierende mangelnde Identifikation des deutschen Fußballfans vermag ich bislang nicht auszumachen. Gottlob freut sich der HSV-Fan heute genauso über die herausragende Leistung eines Rodolfo Cardoso, wie über ein geniales Tor von Roy Präger. Einzig die für die Nationalmannschaften zuständigen Trainer beklagen regelmäßig die Flut der Ausländer in der Bundesliga. Ob dies zu Recht geschieht, werden wir wohl erst 2006 wissen, wenn wieder um die Krone des Fußballs gerungen wird. 
Ich stelle folglich vier Jahre nach der DFB-Sitzung fest, dass der Europäische Gerichtshof mit seinem Urteil zwar ein vernünftiges und funktionierendes Transfersystem zerstört hat, zugleich jedoch arbeitsrechtlich wie betriebswirtschaftlich Klarheit über unsere Grenzen hinaus geschaffen hat. Der Fußball lebt seither nach den auch sonst im Wirtschaftsleben allgemein verbindlichen Regeln und Gesetzen, in denen die subjektive Grenze zwischen vernünftigem und unvernünftigem Handeln für das eigene Unternehmen täglich - und ganz und gar am einzelnen Fall orientiert - aufs Neue gezogen werden muss.
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